Reading Lewis Hyde, 2024

Videoinstallation

Wie können wir Flüsse verstehen? In Lisa Tans Videoessay werden Wasser und Erinnerung durch eine Handlesung und im Gespräch mit dem Autor Lewis Hyde thematisiert. In seinem Buch A Primer For Forgetting nähert Hyde sich dem Akt des Erinnerns in Mythen, dem Selbst, den Nationen und der Politik. Lisa Tan liest die Linien auf Hydes Handfläche, die an Flüsse und deren Nebenflüsse erinnern, um ein Gespräch über Wasserwege, das Vergessen, das Verstreichen von Zeit und die Bildung des Selbst anzuregen.

  • © Simon Veres
  • © Simon Veres
  • © Simon Veres

Stockholm, 16. Oktober 2023

  

Lieber Lewis Hyde,  

 

Hallo aus Stockholm, Schweden, wo ich lebe und als Künstlerin und Lehrerin arbeite. Nachdem ich die letzten Seiten von A Primer for Forgetting gelesen hatte, war ich zu Tränen gerührt. Es steht mir möglicherweise gar nicht zu, eine solche Bewertung abzugeben, aber der folgende Gedanke drängte sich mir auf: So gut, so durch und durch gut kann die Welt sein, wenn alles Wissen in die Hände von jemandem gelegt wird, der über ein großes Maß an Mitgefühl verfügt. Ich danke Ihnen sehr für Ihr Werk, das großen Einfluss hat auf mein Leben, die Art, wie ich lese, wie ich an Dinge herangehe und mit anderen lebe.  

 

Ich wende mich an Sie mit einem Vorschlag. Letzten Sommer wurde ich als eine von zehn Künstler:innen damit beauftragt, für die nächste Ausgabe einer im Zweijahresrhythmus stattfindenden Ausstellung im kommenden April in einer Stadt außerhalb Wiens ein neues Werk beizutragen. Dabei ist mir sofort Lethe in den Sinn gekommen. Ich habe daraufhin in A Primer hineingeschnuppert (und auch in Scott A. Smalls Buch über das Vergessen, nachdem ich einen Artikel über beide Werke in der New York Review of Books gelesen hatte).  

 

Wie kann es uns gelingen, Flüsse zu verstehen? Flüsse waren häufig Anziehungspunkte für Ansiedlungen, sie haben Grenzen gezogen – sich aber, das muss man ihnen zugutehalten, nie auf eine Seite geschlagen. Wie sieht das Bewusstsein eines Flusses aus, wenn es so etwas überhaupt gibt? Ich finde die Formulierung „seit undenklichen Zeiten“, die Sie in der Geschichte über Verjährungsfristen in Ihrem Buch verwenden, irreführend, denn ich frage mich, ob ein Fluss mit dem Begriff „seit Urzeiten“ überhaupt etwas anfangen kann, und komme dabei zu der Überzeugung, dass für einen Fluss weder Erinnerung noch Vergessen von Belang sind. Selbst wenn ihnen beständig eine Verbindung zu Leben und Tod, zu Erinnerung und Vergessen zugeschrieben wird, werden Flüsse immer – mit oder ohne uns – weiterfließen (oder auch nicht).  

 

Nun zu meinem Vorschlag: Wären Sie bereit, mich zu treffen, an einem ruhigen Ort, an dem Sie sich wohlfühlen, vielleicht sogar bei Ihnen zu Hause in Massachusetts, und mit mir ein Gespräch zu führen – das ich filmen würde – über diese und damit zusammenhängende Fragen, während ich Ihnen aus der Hand lese? Ich verfüge über keinerlei Kenntnisse oder Erfahrungen im Handlesen, verspreche Ihnen aber, dass ich im Vorfeld unseres Treffens mir so viel wie möglich darüber aneignen werde. Meine Wahl ist auf die Handfläche gefallen, da die Linien, die sie zieren, an Flüsse und deren Verzweigungen erinnern und als Anregung dienen könnten, aus diesem Handlesen ein Gespräch zu entspinnen über Prophezeiungen, Flüsse des Vergessens und Lebenslinien. Vielleicht auch über Ihre aktuelle Arbeit über die Anziehungskraft der Natur?  

 

Es würde mich freuen, Ihnen – so es Sie interessiert – von meiner Arbeit zu erzählen, aber ich möchte diesen Brief nicht noch länger machen, als er ohnehin schon ist. Danke für Ihre Zeit und Aufmerksamkeit. Ich hoffe sehr, bald von Ihnen zu hören. Sollten Sie, wie ich inständig hoffe, zu einem Treffen bereit sein, würde ich Sie um einen Termin Ende dieses oder zu Beginn des nächsten Jahres bitten.  

 

In großer Bewunderung,  

Lisa  

© Sofía Gallisá Muriente

Lisa Tan (1973, Syracuse, USA) ist Künstlerin und Pädagogin und lebt in Stockholm. Ihre Arbeit ist von persönlichen Erzählungen geprägt und zeichnet sich durch materielle und konzeptionelle Präzision aus. Sie nimmt die Form von Installation, Fotografie, Video, Schrift und anderen Gesten an. Derzeit ist sie Professorin für Kunst an der Konstfack University of Arts, Crafts and Design in Stockholm. Ihre Arbeiten wurden in Einzel- und Gruppenausstellungen und Screenings in verschiedenen Einrichtungen präsentiert, darunter Kunstinstituut Melly, Rotterdam (2022), Moderna Museet, Stockholm (2021), Tabakalera, San Sebastian (2021), Whitechapel Gallery, London (2020), MIT List Center (2017), Kunsthall Trondheim (2017), ICA Philadelphia (2016). Sie nahm an „The Ghost Ship and the Sea Change”, der 11. Göteborg International Biennial for Contemporary Art (GIBCA) (2021), „Why Not Ask Again?”, der 11. Shanghai Biennale (2016) und „Surround Audience“, der Triennial-Ausstellung im New Museum (2015) teil.