The Way of Water

Über Jahrtausende haben wir die Wege des Kriegers glorifiziert, sie als ultimativen Test und Beweis von Mut, Stärke, Pflichtbewusstsein, Großzügigkeit und Männlichkeit erachtet. Wo sonst werde ich diese Eigenschaften finden, wenn ich den Weg des Kriegers verlasse? Welchen muss ich stattdessen einschlagen?” 

Laotse sagt: den Weg des Wassers

 

Wasser, das ihm zufolge schwächste, nachgiebigste Element der Erde, wählt den kleinsten Pfad, nicht die größte Straße. Es weicht allem aus, was härter ist als es selbst, leistet keinen Widerstand, fließt um Hindernisse, nimmt alles auf, lässt es zu, dass es verbraucht, geteilt, verschmutzt wird, und bleibt doch es selbst und folgt dem Weg, den es nehmen muss. Die Gezeiten der Ozeane gehorchen dem Mond, während die großen Strömungen des offenen Meeres ihren eigenen Rhythmus beibehalten. Das zutiefst in sich ruhende Wasser ist dennoch immer in Bewegung; der still ruhende See verdampft stetig, unbemerkt, erhebt sich in die Lüfte. Ein Fluss kann aufgestaut und umgeleitet werden, aber sein Wasser ist nicht komprimierbar und wird immer nur dorthin gehen, wo ihm Raum geboten wird. Selbst wenn der Mensch für seinen Gebrauch vom Fluss so viel abschöpft, dass dieser niemals das Meer erreichen wird, bleibt auf allen Umwegen und bei jeder Verwendung sein Wasser doch immer es selbst, folgt seinem Lauf, fließt weiter und weiter, ober- oder unterirdisch, verflüchtigt sich in die Luft, steigt auf als Dunst, Nebel, Wolke, kehrt als Regen wieder auf die Erde zurück, befüllt von Neuem die Meere. 

 

Für Wasser gibt es nicht nur einen, es gibt unendliche Wege, es nimmt jeden nur möglichen Weg, ist zutiefst opportunistisch, und alles Leben auf der Erde hängt ab von diesem passiven, nachgebenden, unsteten, anpassungsfähigen, wandelbaren Element. 

 

[...] 

 

Das Dahinströmen eines Flusses ist für mich ein Beispiel für Mut, der es mir ermöglicht, weiterzumachen, mich durch unangenehmes Terrain, durch schlechte Zeiten leitet. Mut, der bewusst Kompromisse eingeht und nur, wenn nicht anders möglich, entschieden vorgeht. Er sucht immer den besten, den einfachsten Weg, aber selbst wenn er diesen nicht findet, fließt er weiter, immer weiter.“ 

 

Fragment von Ursula K. Le Guins Mills College Speech 

  • © Simon Veres
  • © Simon Veres

Ursula Kroeber Le Guin (1929-2018) war eine gefeierte Autorin, deren Werk 23 Romane, 12 Bände mit Kurzgeschichten, 11 Gedichtbände, 13 Kinderbücher, fünf Essaysammlungen und vier Übersetzungswerke umfasst. Für die Bandbreite und den Einfallsreichtum ihres Werks wurde sie mit sechs Nebula Awards, sieben Hugo Awards und dem Grand Master der SFWA ausgezeichnet, außerdem mit dem PEN/Malamud und vielen anderen Preisen. Im Jahr 2014 wurde sie mit der National Book Foundation Medal for Distinguished Contribution to American Letters ausgezeichnet, und 2016 wurde sie in die kurze Liste der Autoren aufgenommen, die zu Lebzeiten von der Library of America veröffentlicht werden.