Der geheime Gärtner
Solmaz Khorsand über Markus Weidmann-KriegerDemut flößt einem dieser Ort ein. Wenn man so mit nackten Füßen auf der Wiese steht, die Bäume und Sträucher betrachtet, die Jahre, gar Jahrzehnte an Zeit, Energie und Pflege gebraucht haben, um zu wachsen. Um überhaupt zu existieren. Wie ein verwunschener Gar ten offenbart sich der Sonnenpark am Spratzerner Kirchenweg in St. Pölten. Als hätte sich ein Stück wilder Natur trotz aller menschlicher Ignoranz heimlich seinen Platz zurückerobert, hier, mitten im Wohngebiet im Südwesten der Stadt, zwischen Genossenschaftstürmen und Einfamilienhäusern. Es dauert eine Weile, bis man auf andere Menschen trifft. Eine Frau spaziert vorbei, ein kleines Mädchen an der Hand, mit einem Hund an der Leine. Man nickt einander komplizinnenenhaft zu, als würde man ein Geheimnis teilen, das Geheimnis, diesen Ort entdeckt zu haben.
Und tatsächlich hat der Sonnenpark etwas von einem Geheimnis. Nur 20 Prozent aller Menschen in St. Pölten würden ihn kennen, meint Markus Weidmann-Krieger. Dabei tut der 50-Jährige seit fast zwei Jahrzehnten alles, um seinen Mitbürger:innen begreifbar zu machen, welche Oase sich in dieser Stadt befindet. 50.000 Quadratmeter Grünraum, ein Rückzugsort nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere und Pflanzen. Es ist der atmende, lebende und wachsende Beweis, dass alles nebeneinander existieren kann, im Takt der Natur behutsam gepflegt, nicht durchgestylt wie in herkömmlichen Parks.
Seit 1999 kümmert sich Weidmann-Krieger um diesen Ort. Die meiste Zeit ehrenamtlich, seit vier Jahren angestellt als „Kulturgärtner“. Offiziell für 23,5 Stunden die Woche, inoffiziell etliche unbezahlte Stunden mehr. Nicht umsonst wird er von einigen Besucher:innen „das Rückgrat“ des Parks genannt. Jeden einzelnen Baum kennt er. Welcher gefällt wurde, welche gepflanzt wurden, welcher Gefahr läuft, von den zwei ehrgeizigen Biberfamilien, die seit einigen Wochen den Park heimsuchen, angenagt zu werden. 40 Bäume haben sie bereits gekippt. Erst in der Vornacht haben sie wieder zugeschlagen. Er zeigt an diesem Dienstagnachmittag auf einen umgestürzten Apfelbaum. Dieser stand unmittelbar neben einem der zwei Vereinshäuser beim Eingang Spratzerner Kirchenweg 81–83.
Hier hat alles vor 24 Jahren begonnen. Mit zwei heruntergekommenen Häusern – und einer Gruppe junger Künstler:innen. Nachdem 1999 deren alte Räumlichkeiten nahe dem Bahnhof abgerissen worden waren, stellte ihnen die Stadt das verwaiste Gelände am Spratzerner Kirchenweg zur Verfügung. Ein großes Areal, weit weg vom Schuss. Einst der Standort einer alten Mühle, später einer Fabrik für Eisenwaren, deren Gebäude mit Ausbruch der Kriege im ehemaligen Jugoslawien zur Unterbringung von Geflüchteten genutzt wurden. Weidmann- Krieger erinnert sich noch an die verschachtelten Zimmer in den zwei Häusern, wo auf engstem Raum Betten und Nachtkästchen standen. Bis zu 200 Personen sollen hier Zuflucht gefunden haben.
Hier, am Rande der Stadt, im toten Winkel der St. Pöltner:innen, sollten diese jungen Musiker:innen, Künstler:innen und Freigeister nun ihre Zelte aufschlagen. „Es war ganz schön schwer, Freiwillige zu finden, um aus den Ruinen hier etwas zu machen“, erzählt Weidmann-Krieger. Aber es gelang, mit Learning by Doing ein kleines Utopia zu schaffen – samt Ateliers, Musikräumen, Symposien, legendären Partys und später dem mehrtägigen Festival „Parque del Sol“. Avantgarde und Punk hatten plötzlich in St. Pölten ihre Heimat gefunden. Mit Hunderten Besucher:innen aus aller Welt – von Dänemark bis Russland. Und einem Park, der allzu gern vom Rest der Stadt als Müllhalde missbraucht wurde, um alte Fahrräder, gar Dächer zu entsorgen. Zugewuchert von Rosen und Schlingpflanzen sei er anfangs gewesen, erinnert sich Weidmann- Krieger. Stück für Stück hat er, der sich eigentlich als Schlagzeuger und Videokünstler verstand, ihn freigegärtnert. Einen echten Park mit einem drei Kilometer langen Wegenetz geschaffen. Und das alles in seiner Freizeit.
Die Bäume, ein heikles Kapitel
Sein halbes Leben hat Weidmann-Krieger in diesen Ort gesteckt. Wer mit ihm durch den Park spaziert, begreift, warum ihn andere als dessen Rückgrat bezeichnen. Es hat etwas Väterliches, wenn er über den Boden, die Pflanzen und vor allem die Bäume spricht. Als würde er von seinen Kindern erzählen, die er von Geburt an begleitet hat. Wie er sie gepflanzt und von allerlei invasiven Gewächsen befreit hat. Wie er sie so lange schützt, bis sie von alleine überleben können – ob mit Draht vor Bibern, Kunststofffolien vor Rehen, die sich an ihrer Rinde abwetzen, oder kleinen selbstgebastelten „Rauchen verboten“-Schildern, um die Menschen davon abzuhalten, achtlos ihre Zigarettenstummel wegzuschmeißen, die schon einmal zu einem Waldbrand führen können. Er bückt sich, um einen dieser Stummel aufzuklauben. Verächtlich hält er ihn in die Höhe: „500 Liter Grundwasser verseucht. Das ist eine Giftbombe, die so lange hält, das ist irre!“, sagt er und verschwindet plötzlich im Dickicht. Er will seinen Lieblingsplatz herzeigen. An der Ostseite des Parks, versteckt im Gestrüpp, bleibt er vor zwei Baumstümpfen stehen, den Resten zweier Eschen, die gefällt werden mussten, weil sie sonst von alleine umgeklappt wären. Er setzt sich auf einen der Stümpfe und schaut auf das Blättermeer, das sich vor ihm erstreckt. Sein geliebter Weißdorn mit den roten Früchten, diese „extreme Heilpflanze“, die Blätter der Elsbeere, die er 2020 gesetzt hat, und die schon so hoch ist. „Ab dieser Höhe habe ich schon gewonnen, dann geht es in den Kronenbereich, und ich muss mich nicht mehr kümmern, dass sie durchkommt“, sagt er.
Es hat etwas Väterliches, wenn er über den Boden, die Pflanzen und vor allem die Bäume spricht. Als würde er von seinen Kindern erzählen, die er von Geburt an begleitet hat.
Die Bäume sind ein heikles Kapitel in der Geschichte des Sonnenparks. Wurden sie doch 2008 dazu genutzt, um Weidmann-Krieger und seinen Mitstreiter:innen zu beweisen, wer auf dem Areal das Sagen hatte. Zwei Jahre zuvor hatte der Bürgermeister den Künstler:innen zu verstehen gegeben, dass sie in ihrem Sonnenpark nur geduldet seien, dass die Fläche Bauland sei und längst einer Genossenschaft zum Verkauf angeboten worden war. Die Punks hatten sich die längste Zeit dort ausgetobt. 2008 kam es zur Machtdemonstration. 150 Obstbäume wurden an einem Tag gefällt. Der Rest sollte am Tag darauf folgen. Weidemann-Krieger und seine Kolleg:innen konnten das verhindern. Mit Kampagnen, Teilen der lokalen Bevölkerung und einem überregionalen Medienrummel. Es sollte noch einmal zehn Jahre dauern, bis der Park 2018 auch als solcher vom Verein Sonnenpark betrieben und genutzt werden durfte. Mit einem Haken: Auf zehn Jahre ist der Vertrag zwischen Stadt und Verein ausgelegt. Mit der Klausel, dass die Stadt jederzeit bei Platzbedarf auf den Park zurückgreifen kann. „Rund zwei Drittel des Parks sind nach wie vor Bauland“, erklärt Weidemann-Krieger. Um den Park dauerhaft vor einer Bebauung zu schützen, müsste es eine Flächenumwidmung geben. Nichts deutet darauf hin, dass das in naher Zukunft passieren wird.
Alles also wieder nur ein Provisorium? Weidmann-Krieger lächelt. Der Spaziergang ist zu Ende, er dreht sich auf einer der Sitzbänke vor den beiden Häusern eine Zigarette. „Die Zeit spielt eher für den Park“, sagt er, „ich könnte das auch nicht machen, wenn ich nicht daran glauben würde, dass er bleiben wird.“ Zu sehr sei die ökologische Krise in der Gesellschaft angekommen. Selbst die Ahnungslosesten hätten begriffen, wie wichtig Grünraum in der Stadt sei, obgleich sich die politisch Verantwortlichen zurückhalten, den Ort als grüne Oase zu bewerben – mit eigenem Klimaforschungslabor für Kinder, Festivals und gemeinsam bewirtschafteten Gemüsebeeten, dem Indiz gelebten Bürger:innenengagements. Und schon gar nicht komme man auf die Idee, mehr Geld zu investieren, um den Park zu beschildern, vor Vandal:innen und Ignorant:innen zu schützen, von denen es noch zu viele gibt.
Auch an diesem Tag hat Weidmann-Krieger, der früher als Betreuer in einer Montessori-Schule gearbeitet hat, wieder versucht, einer Gruppe leicht beschwipster Besucher:innen ins Gewissen zu reden. In pädagogischer Manier hat er sie darauf hingewiesen, ihre Bierdosen in die dafür vorgesehenen Mülleimer zu werfen. „Passt scho“, haben sie zurückgegrunzt. Es ärgere ihn, wie viele den Park weiterhin verschmutzen würden. Als hätten sie immer noch nicht begriffen, wie kostbar und rar so ein Raum ist. Manchmal mache er sich Gedanken darüber, was „nach ihm“ passieren wird mit diesem Ort. Ob er sie für diese Arbeit gewinnen könne, diese neue Generation, die es nicht gewohnt sei, lange an etwas dranzubleiben, wenn nicht Geld, Prestige oder zumindest ein paar Likes auf Social Media im Spiel sind.
In solchen Momenten erinnert er sich an die Geschichte eines Jungen. Den damals 14-Jährigen habe er mit seinen Freunden auf die Polizeiwache geschleppt, nachdem sie eine Hütte auf dem Gelände zu ihrem Geheimlager gemacht und anschließend demoliert sowie gelegentlich Feuerlöscher in die frisch verglasten Fenster der Vereinsgebäude geschmissen hatten. Richtig gefährlich sei das gewesen. Jahre später sei dieser Junge als Erwachsener zurück in den Park gekommen. Er wolle sich entschuldigen. Er habe damals nicht verstanden, was hier eigentlich geleistet werde. Jetzt als Erwachsener verstehe er es. Und wolle mithelfen. Zwei Jahre lang habe er ehrenamtlich mitgearbeitet. Heute studiere er in Wien an der Universität für Bodenkultur Forstwissenschaften. Er, der kein Interesse für Bäume hatte, widme sich ihnen nun Vollzeit. Markus Weidmann-Krieger strahlt, wenn er die Anekdote erzählt. Offenbar ist in den vergangenen Jahrzehnten in St. Pölten am Spratzerner Kirchenweg doch mehr gewachsen als nur ein bisschen Grün. So etwas wie ein Bewusstsein.