Kunst ist keine Einbahnstraße
Mit Kunstprojekten im öffentlichen Raum lädt die Tangente St. Pölten - Festival für Gegenwartskultur zur Neuerkundung von Orten, Landschaften und Stadtgeschichte ein.Über dem Domplatz von St. Pölten flattern Fragen im Wind: Was schlummert unter der Oberfläche dieses Ortes? Wie erinnern wir uns an seine Geschichte? Und was hat das alles mit sozialen Randgruppen und der Herstellung von Papier zu tun? „Dead, I Am Still Paper“ lautet der Titel der Installation von Mariana Castillo Deball, die bis 2. November am Domplatz zu sehen ist. Die Künstlerin bezieht sich damit auf den riesigen Friedhof, der bei archäologischen Grabungen auf dem Areal entdeckt wurde, aber auch auf die Geschichte der Lumpensammler:innen, die sich einst mit Textilabfällen ihr hartes Brot verdienten. Die von ihnen gesammelten Leichentüchern und Lumpen wurden für die Papierproduktion benötigt und um den Bedarf zu decken, beschafften sie sich die Stoffe zum Teil auch aus Grabstätten, was zum Ausbruch von Krankheiten führte.
"Dead, I Am Still Paper" erkundet die miteinander verwobenen Themen Geschichte, Erinnerung und Materialität. Die flatternden Leinwände sind inspiriert von den Grabbeigaben, die bei den Ausgrabungen auf dem Domplatz entdeckt wurden, und von früheren Bestattungstechniken, bei denen die Leichen in Leinen oder Baumwolltuch eingewickelt wurden. Die Installation spielt damit nicht nur auf die dem Leben innewohnende Präsenz des Todes an, sondern spiegelt auch seine tief verwurzelte Bedeutung in der mexikanischen Kultur wider, in der diese allgegenwärtige Dualität gefeiert wird. Die Arbeit ist auch von der mexikanischen Tradition des Papel Picado (geschnitztes Papier) inspiriert, einer zentralen Dekoration am Tag der Toten. Diese zarten, farbenfrohen Papierbögen, die in sorgfältiger Handarbeit mit komplizierten Motiven geschnitzt werden, erzählen anschaulich die Geschichte dieses Festes.
Die von Joanna Warsza und Lorena Moreno Vera kuratierten Kunstprojekte im öffentlichen Raum sind eine Einladung, sich mit in Vergessenheit geratenen Aspekten der lokalen Geschichte zu beschäftigen und vermeintlich Altbekanntes aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. Mit den Mitteln der zeitgenössischen Kunst werden globale Zusammenhänge sichtbar gemacht, Wasserwege erkundet und die historischen Schichten im Stadtraum freigelegt.
Zu den weiteren bildenden Künst Projekten der Tangente St. Pölten gehört die perfomative Skulptur des Schweizer Künstlers Christian Philipp Müller „Ein Bad für Florian“ auf dem Domplatz als Auftakt des Festivals. Sie wurde exakt über dem einstigen Badehaus eines römischen Palastes installiert, dessen Überreste ebenfalls bei archäologischen Grabungen zum Vorschein gekommen sind.
Schauplatzwechsel an den Großen Viehofner See: Hier dümpeln zwei schwarze Schlauchboote vor sich hin, die mit einem spiegelähnlichen, die Umwelt reflektierenden Edelstahlträger verbunden sind. „Two Friends“ nennt sich die schwimmende Skulptur von Eva Grubinger und Werner Feiersinger, die inmitten des beschaulichen Freizeitareals an ein düsteres Kapitel aus der Geschichte von St. Pölten erinnert, nämlich an zwei Zwangsarbeiterlager, die sich hier in der NS-Zeit befanden. „Two Friends“ ist Teil des Kunstparcours „The Way Of The Water” entlang des Mühlbachs und der Traisen, den beiden Wasserläufen von St. Pölten. Sie repräsentieren ein Element, von dem alle lebenden Organismen abhängen, das aber auch todbringend sein kann und durch die Eingriffe des Menschen seinerseits bedroht ist. Entsprechend unterschiedlich und vielschichtig sind die 24 künstlerischen Positionen, die sich mit den Wegen des Wassers beschäftigen. Am Ufer der Traisen trifft man unter anderem auf Cecylia Maliks Schilderwald "Rising Rivers": Auf achtzig Tafeln hat die aus Krakau stammende Künstlerin die Namen von Flüssen, angefangen bei der Traisen und ihren Zuflüssen, verewigt: Flüsse, die zu den am stärksten verschmutzten in Europa zählen (Sarno in Italien), die zu Naturschutzgebieten erklärt wurden (Vjosa in Albanien) oder denen der Status als juristische Person zuerkannt wurde (Whanganui in Neuseeland). Während der Eröffnung wurde dieser Ruf nach Gerechtigkeit und Bewusstsein durch den energischen Ruf an Mutter Erde von Erena Rangimarie Omaki Ransfield Rhöse, einer Maori-Hüterin des Stammeswissens und Ärztin der traditionellen Maori-Medizin, angestimmt.
Entlang des Kunstparcours entstanden auch Hörstücke mit den Unterwasserklängen der Huchen (Donaulachs), ein fiktives Schwimmbad, eine fünfzehn Meter lange textile Wasserpartitur, Früchte des Widerstands und zahlreiche weitere Arbeiten, die es zu Fuß oder auch auf einer Fahrradtour zu entdecken gilt. Die Route beginnt am Mühlbach bei der Initiative Solektiv im Sonnenpark und folgt dann dem Verlauf von Traisen und Mühlbach von Süden nach Norden.
Die Kunst breitet sich aber auch im Stadtzentrum aus, eine St. Pöltner Hausmauer hat sich im Rahmen der „Visionale“ (kuratiert von Andreas Fränzl) in ein Street-Art-Gemälde verwandelt, rund um das vom italienischen Kollektiv Biennale Urbana im Zusammenarbeit mit lokalen Kooperationspartner:innen gestaltete Tangente Festivalzentrum in der Linzer Straße regen künstlerische Interventionen dazu an, gewohnte Denkmuster zu verlassen. Auf besonders charmante Weise tun das Theresa Hattingers schräge „Verkehrsschilder“, die nicht der Straßenverkehrsordnung, sondern der Lust am Abwegigen verpflichtet sind. Auf einem vermeintlichen Einbahnstraßenschild steht nicht „one way“, sondern „some way“ geschrieben, woanders liest man „verbiegen“ statt „abbiegen“ und ein großes grünes „P“ markiert hier keinen Parkplatz, sondern Partizipation. Als „Aufstiegshilfen“ - vielleicht auch für die freie Kulturszene -, aber natürlich auch als Ort der Begegnung sind wiederum die vom Wiener Architekturkollektiv AKT gestalteten Tribünen im Innenhof gedacht. Und von 12. September bis 6. Oktober werden leerstehende Geschäftslokale und Schaukästen in der St. Pöltner Innenstadt zur „Stadt-Galerie“, kuratiert von Andreas Fränzl. Künstlerische Arbeiten von lokalen und regionalen Künstler:innen zu den Themen Ökologie, Erinnerung und Demokratie werden hier zur Schau gestellt und verwandeln die St. Pöltner Innenstadt zu einer flanierbaren Kunstgalerie.