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X-Erinnerungen: Erinnerung als Rauschen

Interview mit Matthias Lilienthal, Helena Eckert und Friederike Kötter, den Kurator:innen von „X-Erinnerungen“
von Lewon Heublein

Das Konzept von „X-Wohnungen“ ist knapp 20 Jahre alt und wurde in diversen Städten neu adaptiert. Was zeichnet das Format heute für euch aus?  

 

Matthias Lilienthal: Das Lustige ist, dass die Realität immer anders ist, als man vorher denkt. Die eigene Stadt wird für die Bewohner:innen zu einer unbekannten Stadt. Und das ist der eigentliche Vorgang bei X-Erinnerungen: Der Versuch, einen anderen Blick auf die eigene Stadt, auf vermeintlich Bekanntes zu werfen. 

 

Helena Eckert: Die ersten Ausgaben von X-Wohnungen haben davon gelebt, einen exklusiven Einblick in private Räume zu bekommen, die zur Bühne wurden. Das hat sich gegenwärtig auch geändert – durch digitale Medien ist der Einblick in private Räume fast schon zur Normalität geworden. X-Erinnerungen ist auch ein Versuch, dem nachzuspüren, wie sich diese Räume über die Zeit hergestellt haben.

Wie kann man sich den Ablauf und die drei unterschiedlichen Routen von X-Erinnerungen vorstellen? 

 

Matthias Lilienthal: Alle zehn Minuten starten zwei Zuschauer: innen entlang von drei Routen auf unterschiedliche Touren durch die Stadt, und alles, was ihnen auf diesem Weg begegnet, wird zur Inszenierung. Die drei Routen stehen mit ihren Architekturen aber auch für unterschiedliche Inhalte. Auf der Tour durch die Innenstadt, vorbei am Rathaus, entlang der Ehemaligen Synagoge und durchs Regierungsviertel, drängen sich Erinnerungen an den Holocaust und den Faschismus auf, und gleichzeitig Fragen nach den gegenwärtigen politischen Verhältnissen. Der Norden erzählt mit der nunmehr stillgelegten Glanzstoff-Fabrik und den sie umgebenden Orte auch eine Geschichte der Arbeit. Und auch im Süden, auf der Tour durch die historischen Eisenbahnerhöfe, durch das Villenviertel in Richtung Sonnenpark, eröffnen der städtische Raum und die Spielorte des Projekts eine kontrastreiche Erzählung von St. Pölten.

Wie sah eure Recherche bisher aus? 

 

Friederike Kötter: Der Großteil unserer Recherche erfolgt außerhalb der Geschichtsbücher und besteht darin, dass wir die Stadt über ihre Bewohner:innen kennen lernen. Wir kommen ins Gespräch, werden von einer auf die nächste Person verwiesen, und so spannt sich langsam ein Netz persönlicher und kollektiver Erinnerungen durch die Stadt. 

 

Matthias Lilienthal: Man könnte sagen, dass X-Erinnerungen eine große Kurzzeit-WG aus St. Pöltner:innen, Künstler:innen und Besucher:innen ist. 

 

Helena Eckert: Und die Offenheit der Menschen hier, diese Wohngemeinschaft zu bilden, gab es total, wie wir festgestellt haben.

Inwiefern konntet ihr die Stadtbewohner:innen miteinbeziehen? 

 

Friederike Kötter: Wir arbeiten mit vielen St. Pöltner:innen zusammen, sowohl Künstler:innen, die aus der Umgebung kommen oder mit der Stadt assoziiert sind, als auch mit den Bewohner:innen der Wohnungen, die teilweise selbst mitperformen. X-Erinnerungen ist eben nicht nur der Blick von außen auf die Stadt, sondern auch von innen.

Was kann das Theater oder ein Projekt wie eures dazu beitragen, Erinnerungspraktiken zu schaffen, die nicht simplifizierend oder nostalgisch geprägt sind? 

 

Helena Eckert: Wenn man subjektive Wahrnehmung und die Erinnerung eines Ereignisses in der Vielzahl ernst nimmt und versucht, so viele Erinnerungen wie möglich zu sammeln, dann entsteht ein Rauschen. Das kann dem, was tatsächlich passiert ist, viel näher stehen als ein hegemoniales Narrativ. Das ist natürlich gerade für Bereiche, die vielleicht nicht so prominent sind, eine wichtige Praxis in der Erinnerungskultur. Um ein Beispiel zu geben: Die in St. Pölten geborene Künstlerin Seba Kayan, deren Vater in der Glanzstoff-Fabrik arbeitete, hat ihre Kindheit in den an die Fabrik angrenzenden Arbeiter:innenwohnungen verbracht. Der Familienalltag war getaktet entlang der Schichtarbeitszeiten des Vaters. Nun führt sie Interviews für X-Erinnerungen mit all ihren Familienmitgliedern über diese Zeit, und alle erinnern sich ganz anders. Man sieht die Bruchstücke von Erinnerungen, die sich überlagern, aber sich eben auch unterscheiden können. 

 

Matthias Lilienthal: Ich glaube, es ist wichtig, mit einer genauen Recherche eine präzise Erinnerungskultur zu schaffen. Das Kollektiv „Institut für Medien, Politik und Theater“ verlegt seine Arbeit an die Viehofner Seen – das Naherholungsgebiet der Stadt, an dessen Stelle sich früher ein Zwangsarbeitslager für ungarische Juden befand – und sucht in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes Bezüge zur politischen Gegenwart. Hier zerschlagen sich dann die Signifikanzen von der Erinnerung dessen, was im Faschismus passiert ist, hin zur Nutzung des Geländes heute. 

 

Friederike Kötter: In dem Moment, in dem eine internationale Künstlerin und Aktivistin wie María Galindo mit ihren Erinnerungen aus Bolivien nach Österreich kommt, um hier die private Wohnung einer St. Pöltner:in zu bespielen, passieren zwangsläufig Dinge, die nicht im Vorhinein geplant werden können. Die Erinnerungen aller Beteiligten und der Orte selbst geraten bei X-Erinnerungen unmittelbar in Spannung und das ist das Aufregende an dem Format. Unsere Hoffnung ist, dass das Publikum auch Ambivalenzen aushält und offen ist, Verbindungen zwischen unterschiedlichen, scheinbar unabhängigen Erinnerungen herzustellen und darin auch die Gemeinsamkeiten zu entdecken bzw. zu sehen, dass das eine doch mehr mit dem anderen zu tun hat, als man denkt.

„X-Erinnerungen“ findet am 28. Juni (16.00 bis 20.30 Uhr) sowie am 29. und 30. Juni jeweils von 14.00 bis 18.30 Uhr statt.

Die an X-Erinnerungen teilnehmenden Künstler:innen: 

Alibeta 

Marga Alfeirão  

Kurdwin Ayub 

‚Bruch‘- 

crazinisT artisT 

Tim Etchells 

María Galindo 

Trajal Harrell 

Institut für Medien, Politik und Theater 

Seba Kayan 

makemake produktionen/Sara Ostertag/Paul Plut 

Dana Michel  

Rainy Miller 

Tine Milz & Fabian Saul 

Netti Nüganen 

Samouil Stoyanov 

Maksym Rokmaniko (The Center for Spatial Technologies) 

Theater Perpetuum 

Studierende am Institut für Sprachkunst (Wien) 

Elisabeth Weilenmann 

Sandra Wollner